
"Kettcar"-Kopf Marcus Wiebusch im kiekmo-Interview
Marcus Wiebusch ist Label-Chef, die zentrale Figur der Band "Kettcar" und Ottenser mit Leib und Seele: Wir haben den charismatischen Bandleader zum Interview getroffen.
Er ist auf der Veddel groß geworden, hat auf St. Pauli das Musiklabel "Grand Hotel van Cleef" gegründet und unterstreicht in den Songs seiner Band "Kettcar" immer wieder die Liebe zu seiner Heimatstadt Hamburg: Marcus Wiebusch ist ein unbequemer Freigeist, dessen Wurzeln im Punk liegen und der mit seiner Musik vielen Menschen direkt aus den Herzen spricht, ihnen Halt gibt und gleichzeitig der Hansestadt eine unvergleichliche Stimme verleiht. Er ist gewiss kein alltäglicher Künstler. "Kettcar" sind Hamburg und Hamburg ist "Kettcar". Es sind literarisch-musikalische Reisen, auf die Marcus und seine Bandkollegen die Hörer entführen. Taucht ein in einen Kosmos aus Sehnsucht, Veränderung und neuen, alten Sounds. Bruce Springsteen ist ebenfalls dabei.
Marcus Wiebusch über Hamburg und die Liebe zur Musik
Marcus, du und deine Band "Kettcar" steht als musikalisches Sinnbild für Hamburg. Du selbst bist aber nicht hier geboren. Wie und wann bist du nach Hamburg gekommen?
"Das ist richtig. Ich wurde in Heidelberg geboren, bin aber schon früh mit meiner Mutter in die Lüneburger Heide gezogen, dort kam mein vier Jahre jüngerer Bruder Lars auf die Welt. Als ich elf Jahre alt war, sind wir dann auf die Veddel gezogen, wo ich aufgewachsen bin. Das war zur damaligen Zeit, 1977, wirklich ein hartes Pflaster, ein sozialer Brennpunkt. Nach Abi und Zivildienst bin ich dann im Karolinenviertel gelandet."
Und mittlerweile ist Ottensen seit über 15 Jahren deine Heimat.
"Genau, ich bin 2001 hier ins Viertel gezogen - und war anfangs wirklich alles andere als begeistert (lacht). Der Stadtteil hatte damals einen sehr "hippiesquen" Ruf, was die Bewohner betrifft. Aus heutiger Sicht finde ich meine damalige Einstellung absurd, denn ich würde mir nichts mehr wünschen, als dass es wieder so ist. Ich hatte damals auch das Glück, dass wir direkt an den Spritzenplatz gezogen sind, in den Hinterhof einer ehemaligen Ziegelfabrik. Wirklich super gemütlich und schnuckelig, eine gute Zeit."Ich sehe Ottensens Entwicklung kritisch, weiß aber auch, dass ich ein Teil davon bin.
Das Viertel hat sich seitdem sehr stark verändert. Es wird viel geschimpft: über Neubauten, über Zugezogene, über alteingesessene Läden, die schließen müssen. Wie empfindest du persönlich diese Entwicklung?
"Für mich ist der Begriff 'Gentrifizierung' immer ein zweischneidiges Schwert, weil ich als Künstler auch irgendwie Teil dieser Sache bin. Ich möchte ja in diesem "coolen" Stadtteil leben. Und der wird halt cool durch Cafés, durch kleine Läden, die aufmachen, bevor dann die H&Ms kommen. Das habe ich in Ottensen direkt erlebt - obwohl ich jetzt kein Café aufgemacht habe. Entweder man macht das Spiel mit oder man zieht weg. Und ich finde es sehr bedauerlich, dass viele meiner Freunde über die Jahre aus Ottensen wegziehen mussten, weil sie es sich nicht mehr leisten konnten. Ich sehe die Entwicklung sehr kritisch, weiß aber auch, dass ich ein Teil davon bin."
Wie würdest du denn diese Entwicklung beeinflussen wollen, wenn du direkter Entscheider wärst und Dinge ändern könntest?
"Allgemein finde ich, dass die Menschen viel zu viel Geld für Wohnraum zahlen müssen. Die Politik müsste wirklich alles, alles, alles daransetzen, den Hamburgern günstigeren und gleichzeitig guten Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Stichwort: Sozialer Wohnungsbau oder genossenschaftliche Wohnungen - auch und gerade in einem Viertel wie Ottensen. Es wird in Hamburg ja gerade gebaut ohne Ende. Jede Baulücke, egal in welchem Stadtteil, wird quasi sofort wieder geschlossen. Die Leute schreien nach Wohnungen und die bekommen sie auch, das muss man der Politik zu Gute halten. Diese richten sich aber in den meisten Fällen an die absoluten Besserverdiener. Was ich mich dabei frage: Warum kann man es als Gesetzgeber nicht veranlassen, dass für, sagen wir, fünf Quadratmeter Fläche, die neu entstehen, ein Quadratmeter geförderter Wohnungsbau entstehen muss. Das wäre mein Ansatz."

Wie siehst du die Entwicklung von Hamburg allgemein und von Ottensen im Speziellen in den kommenden 15 bis 20 Jahren? Und bist du dann immer noch hier?
"Das ist schwer zu prognostizieren. Ich hoffe sehr, dass der Stadtteil seinen Charme behält - trotz all der Veränderungen. Ich habe den Eindruck, dass man Ottensen einfach nicht gänzlich "kaputt gebaut" bekommt. Hier ist immer noch so viel tolle, alte Substanz, die größtenteils hoffentlich auch die nächsten 15 Jahre übersteht. Und ja, ich werde dann aller Voraussicht nach auch immer noch hier wohnen. Es ist immer noch ein toller Stadtteil, natürlich anders als in der Vergangenheit, aber ich wohne wirklich gerne hier."
Was genau macht für dich den Charme dieses Viertels aus?
"Es ist immer noch sehr schön durchmischt. Du hast auf der einen Seite die ganzen Besserverdiener, aber trotzdem auch noch Familien mit zum Beispiel Migrationshintergründen. Ein sehr unterschiedliches Klientel. Ich mag dieses Klischeewort "bunt" eigentlich nicht sehr gerne, aber in diesem Fall beschreibt es Ottensen sehr gut. Es ist einfach ein bunter, lebendiger Stadtteil."
Für mich war es nie eine Option, Hamburg zu verlassen.
War es für dich irgendwann mal eine Option, aus Hamburg wegzuziehen? Vielleicht nach Berlin, so wie zum Beispiel deine Kollegen Thees Uhlmann, Olli Schulz oder Gisbert zu Knyphausen?
"Nein, diese Option gab es nie. Für mich ist es einfach Hamburg. Und wenn du dir die anderen anschaust, wie Thees oder Olli, war es die Liebe, die sie aus Hamburg wegführt hat. Und nicht das vielleicht etwas heißere kulturelle Umfeld. Hier ist mein Zuhause, hier haben wir uns unser Label aufgebaut und rein thematisch: Zwischen Hamburg und "Kettcar" hat ja eigentlich nie auch nur ein Blatt dazwischen gepasst."
Du sprichst euer Label "Grand Hotel van Cleef" an und die Musik, die du seit Jahrzehnten machst. Was macht Hamburg als Musik-Standort für dich besonders?
"Also rein infrastrukturell gesehen, ist Hamburg ja die Hölle (lacht). Wo Wohnraum dermaßen knapp ist, sind natürlich auch Proberäume wahnsinnig knapp. Dem gegenüber steht die ideelle, emotionale Seite: Du hattest in den 90ern, und heute in Teilen noch immer, einen unglaublichen Austausch mit anderen Bands. Alle großen und kleinen Plattenfirmen waren hier, Musiker aus allen Teilen der Republik sind nach Hamburg gezogen, es ist in dieser Zeit einfach sehr viel entstanden. Mittlerweile hat Berlin Hamburg in dieser Hinsicht zwar den Rang abgelaufen, der Musik-Standort Hamburg hat allerdings noch immer ein ganz besonderes Flair. Darüber hinaus sind wir mit "Kettcar" einfach eine Hamburger Band, die von den Orten in dieser Stadt berichtet. Und dieses Image werden wir auch ganz sicher nicht mehr los."

Warum, meinst du, vereint ihr so viele Menschen mit eurer Musik? Was ist dieses "Hamburg-Gefühl", über das alle immer reden, aber das keiner so genau benennen kann?
"Das ist eine sehr gute Frage. Es liegt zum einen bestimmt an der Schönheit dieser Stadt. Und natürlich am Hafen. Wobei es das nicht allein sein kann, guck dir andere Städte wie Lübeck an, auch eine wunderschöne Stadt. Es kommt dann wahrscheinlich doch auf die Größe an - und dieses gewisse "Weltstädtische", das Hamburg hat. Wahrscheinlich ist es eine Kombination aus verschiedenen Faktoren."Mit unserem neuen Album haben wir nochmal einen rausgehauen.
Lass uns noch ein, zwei Sätze über euer neues Album "Ich vs. Wir" verlieren. Was dürfen die "Kettcar"-Fans erwarten und wie zufrieden bist du persönlich mit dem Album?
"Sehr zufrieden. Wir haben innerhalb der Band in den vergangenen Wochen natürlich sehr viel darüber gesprochen und es fiel häufiger der Satz: 'Das ist unser bestes Album.' Und wenn man das schafft, beim fünften Album nicht den Zenit überschritten zu haben, kann man schon ein wenig stolz sein. Mit "Ich vs. Wir" haben wir nochmal einen rausgehauen, so ist auch die allgemeine Rezeption. Und was ich ebenfalls sehr schön finde: Nach einer Pause von fünf Jahren haben uns die Leute nicht vergessen. Jetzt sind wir wieder da und die Konzerte sind voller als jemals zuvor."
Über die erste Singleauskopplung "Sommer '89" hat Juli Zeh gesagt: "Das ist ein Song wie gute Literatur". Bist du ein heimlicher Literat, der daneben ein guter Musiker ist? Oder bist du in erster Linie Musiker, der zufällig auch gute Literatur kann?
"Schau dir Musiker wie Bob Dylan oder Bruce Springsteen an, das sind eigentlich Literaten. Die erzählen großartige Geschichten, verpackt in Musik. Und ich möchte mich natürlich nicht auf eine Stufe mit den beiden Stellen, aber ich erkenne schon strukturelle Ähnlichkeiten, weil auch bei unseren Songs die Texte ganz klar im Vordergrund stehen. Das Problem dabei ist nur, dass wir in Deutschland, trotz einer Ära wie der Hamburger Schule, kaum Erfahrung damit haben, wenn Bands Literatur und Musik vereinen. Mein Anspruch ist aber schon, diesen Künstlern in gewisser Weise nachzueifern und auf diese Art unsere Musik zu machen. Dieses "Storytelling" kommt bei den Leuten extrem gut an und ganz so trennscharf kann ich deine Frage gar nicht beantworten. In erster Linie würde ich mich schon als Musiker bezeichnen - so wie sich Bruce Springsteen wahrscheinlich auch eher als Musiker sieht und nicht als Literat."

Marcus Wiebusch mit seiner Band "Kettcar" auf Tour
Die Band "Kettcar" gründete sich 2001, "Ich vs. Wir" ist ihr mittlerweile fünftes Studioalbum. Am 13. Oktober 2017 erschienen, beendete die Platte nicht nur ein sehnsüchtiges, jahrelanges Warten aller "Kettcar"-Fans. Von der Kritik wurde "Ich vs. Wir" als wichtiges, weil auch politisches, Werk gelobt. 2018 gingen Marcus Wiebusch und seine Crew auf große Tour und auch 2019 stehen einige Konzerte und Festivals an. Tickets findet ihr auf der Homepage des Labels Grand Hotel van Cleef. Dieses rief Marcus Wiebusch gemeinsam mit seinen Musiker-Kollegen Thees Uhlmann und Reimer Bustorff ins Leben.
Unsere Texte, Tipps und Empfehlungen richten sich an alle, die sich für Hamburg interessieren. Deshalb bemühen wir uns um genderneutrale Formulierungen. Nutzen wir die männliche Form, dient dies allein dem Lesefluss. Wir denken aber stets Menschen aller Geschlechter mit.