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Lena Woehler
Hamburg

Besondere Stadtführung: So sehen Obdachlose Hamburg

Ilona Lütje
Ilona Lütje

Die Hamburger Nebenschauplätze führen an Orte, die in keinem Reiseführer stehen. Wir nehmen euch mit auf den Hinz & Kunzt-Stadtrundgang mit den ehemaligen Obdachlosen Chris und Harald.

Elbphilharmonie, Landungsbrücken, Michel, Hafen – die Stadt hat viele schöne Seiten, die Hamburger und ihre Besucher kennen sollten. Doch es gibt auch die dunklen Seiten der Stadt. Die, von denen viele nicht mal etwas ahnen. Die, die sie normalerweise auch gar nicht zu Gesicht bekommen oder an denen sie ahnungslos vorbeilaufen. Diese "Nebenschauplätze" stehen in keinem Reiseführer. Harald und Chris wollen sie den Hamburgern näher bringen. Sie sollen ihre Stadt einmal mit den Augen eines Obdachlosen sehen.

Drogenberatung statt Passagenbummel

Wohnheim statt Hotel Atlantik, Tagesaufenthaltsstätte statt Alsterpavillon, Beratungsstelle statt Passagenbummel – Harald und Chris kennen alles aus eigener Erfahrung. Beide waren einst selbst Obdachlos, arbeiten heute für Hinz&Kunzt, dem größten Straßenmagazin Deutschlands. Das integrative Projekt bietet die alternativen Stadtrundgänge an und hat auch damit wieder zwei Teilzeitarbeitsplätze geschaffen.

Stadtführer kennen die Szene aus eigener Erfahrung

Harald und Chris kennen das Leben auf der Straße aus eigener Erfahrung. Sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn man nicht weiß, wo man duschen soll, wo man sein Gepäck sicher abstellen kann und wie es ist, wochenlang nicht schlafen zu können aus Angst vor Überfällen.

Als ehemaliger Junkie hatte Harald viele Jahre nur ein Zuhause: die Straße. Der ehemalige Nürnberger hatte seine Heimatstadt 1992 verlassen. Niemand sollte dort erfahren, wie tief unten Harald aufgeschlagen war – arbeitslos, heroinsüchtig, obdachlos. Auch Chris machte jahrelang Platte und weiß, wovon er seinen Gästen erzählt. Mit großem Wissen und jeder Menge Wortwitz führen die Hinz&Kunzt-Stadtführer an Orte, die für Obdachlose wichtig sind und machen auf Dinge aufmerksam. Los geht die Tour in den Räumen von Hinz&Kunzt. Hier können die Teilnehmer mehr über den Redaktionsalltag des Magazin erfahren, das 1993 als Kooperationsprojekt von Obdachlosen und Journalisten gegründet wurde und heute mehr als 500 Obdachlose, Wohnungslosen und ehemalige Obdachlose mit dem Verkauf beschäftigt.

"Die Körperpflege ist ein großes Problem"

Von hier startet die Gruppe an jedem zweiten Sonntag im Monat zu ihrer zweistündigen Tour. Einer der Anlaufpunkte ist dann zum Beispiel der Stützpunkt, in dem Obdachlose ihr Gepäck sicher aufbewahren können, und die "Schwerpunktpraxis", in der sie sich kostenlos ärztlich behandeln lassen können. "Hier stört es niemanden, wenn du komisch aussiehst oder riechst", erzählt Harald, der weiß: "Die Körperpflege ist nämlich ein großes Problem auf Platte."

Duschen, waschen, essen: Obdachlosenhilfe "Herz As"

Hier ist das "Herz As" eine große Hilfe. In der Tagesstätte können Obdachlose kostenlos duschen und ein Stück Normalität zurückgewinnen. In der Einrichtung gibt es auch Waschmaschine und mehrmals in der Woche eine warme Mahlzeit, Sozialpädagogen informieren über Notunterkünfte und Wohnungslosenhilfe.

Auch die Drogenberatungsstelle "Drob Inn" ist eine der Anlaufstationen – eine, an der die Teilnehmer schon mal starke Nerven brauchen. Seit mehr als 30 Jahren holt die Drogenberatungsstelle mit eigenem Druckraum die offene Szene von den Straßen St. Georgs. Am Rande des Viertels können Drogenabhängige ganz legal Drogen nehmen. Auch wer aussteigen will, bekommt hier Hilfe.

Immer zwischen Scham und Hilfsbereitschaft

Immer wieder bleiben die beiden Stadtführer zwischendurch stehen, erklären und beantworten Fragen der Zuhörer. Sie berichten von Scham und Hilfsbereitschaft, erzählen vom Leben am Abgrund und neuer Hoffnung. Bei dem zweistündigen Rundgang geht es aber nicht darum, Sensationslust zu befriedigen, betonen die Stadtführer. Vielmehr wollen sie Verständnis für den Alltag Obdachloser wecken. Und zeigen, dass die Stadt für alle offen bleiben muss.

Große Nachfrage: Chris und Harald haben jetzt einen richtigen Job

Das gelingt ihnen sehr überzeugend. Rund 7.000 Interessierte pro Jahr machen die Tour mit den beiden Stadtführern mit. Die große Nachfrage hat dazu geführt, dass daraus sogar ein richtiger Job geworden ist: Chris und Harald sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt und freuen sich darüber riesig. "Es ist ein tolles Gefühl und eine Anerkennung unserer Arbeit", freut sich Chris. Der 47-Jährige ist seit 2015 dabei, Harald (54) macht die Führungen bereits seit 2013. Der Stadtrundgang ist geeignet für Erwachsene und Jugendliche ab 17 Jahre. Für Gruppen vereinbart Hinz&Kunzt Extra-Termine.
Was? Hamburger Nebenschauplätze – offene Rundgänge
Wann? Jeden zweiten Sonntag im Monat, jeweils um 15 Uhr
Wo? Treffpunkt Altstädter Twiete 1-5
Wieviel: 10 Euro, ermäßigt 5 Euro pro Person
Anmeldung erforderlich: Online unter oder telefonisch unter 32 10 83 11

Obdachlos in Hamburg

Die Zahl der Obdachlosen in Hamburg hat sich fast verdoppelt – allein im vergangenen Jahr. Die Crowdfunding-Aktion GoBanyo wurde mittlerweile erfolgreich beendet: Der mobile Duschbus für Hamburger Obdachlose konnte so erfolgreich finanziert werden.

Unsere Texte, Tipps und Empfehlungen richten sich an alle, die sich für Hamburg interessieren. Deshalb bemühen wir uns um genderneutrale Formulierungen. Nutzen wir die männliche Form, dient dies allein dem Lesefluss. Wir denken aber stets Menschen aller Geschlechter mit.